
Zeitgeschehen
1. Historische Ungerechtigkeit als Wegbereiter des Protests
Die politische Landschaft Ostdeutschlands unterscheidet sich bis heute signifikant von der Westdeutschlands. Der Aufstieg der AfD in den neuen Bundesländern ist nicht allein durch aktuelle gesellschaftliche Spannungen zu erklären, sondern wurzelt tief in der spezifischen Erfahrung der Wiedervereinigung. Um das politische Verhalten der Ostdeutschen zu verstehen, muss die Geschichte des geteilten Deutschlands und die Nachwirkungen der deutschen Einheit kritisch beleuchtet werden. Die weitverbreitete Unzufriedenheit im Osten hat eine lange Vorgeschichte und ist eng mit dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel nach 1990 verbunden.
2. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in der DDR
Die DDR entstand aus der sowjetischen Besatzungszone und hatte von Beginn an wirtschaftliche Nachteile gegenüber der Bundesrepublik. Die massiven Reparationsleistungen an die Sowjetunion und die wirtschaftliche Isolation durch die Hallstein-Doktrin der BRD machten eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung schwierig. Trotz dieser Herausforderungen gelang es der DDR, ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit zu etablieren: Vollbeschäftigung, bezahlbarer Wohnraum, kostenlose Bildung und ein ausgebautes Gesundheitssystem waren Errungenschaften, die viele Ostdeutsche nach der Wiedervereinigung vermissten.
Die Planwirtschaft der DDR war zwar ineffizient, bot jedoch vielen Bürgern eine vorhersehbare Lebensrealität. Gerade im Vergleich zur heutigen Marktwirtschaft, die Gewinner und Verlierer produziert, sehen viele ehemalige DDR-Bürger ihre damalige Lebenswelt im Rückblick als stabiler an. Diese soziale Absicherung wurde 1990 abrupt aufgelöst.
3. Der Weg zur Wiedervereinigung: Euphorie und Realität
Die friedliche Revolution von 1989 war ein historisches Ereignis, das zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führte. Die Demonstranten forderten nicht nur Reisefreiheit, sondern auch Reformen innerhalb des Systems. Viele Bürger waren jedoch nicht darauf vorbereitet, dass die DDR innerhalb weniger Monate aufhören würde zu existieren. Während der Westen die Wiedervereinigung als Triumph der Freiheit feierte, war sie für viele Ostdeutsche ein abrupter Identitäts- und Strukturbruch.
Die Verhandlungen um die Wiedervereinigung, insbesondere die 2+4-Verträge, machten deutlich, dass es sich weniger um eine gleichberechtigte Vereinigung handelte als vielmehr um eine Eingliederung der DDR in das westdeutsche System. Die Umstellung auf die D-Mark und die sofortige Übernahme des westdeutschen Wirtschaftsmodells führten zu einem wirtschaftlichen Schock, der viele Ostdeutsche in die Arbeitslosigkeit trieb.
4. Die Treuhand und der wirtschaftliche Zusammenbruch
Die Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt bleibt bis heute eines der umstrittensten Kapitel der Wiedervereinigung. Die schnelle Privatisierung und Schließung von Betrieben führte zu massiver Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Niedergang ganzer Regionen. Westdeutsche Unternehmen nutzten die Situation, um sich profitable DDR-Firmen zu sichern, während viele Ostdeutsche ihre Arbeitsplätze verloren.
Zusätzlich wurden nahezu alle Schlüsselpositionen in Verwaltung, Justiz und Wirtschaft von Westdeutschen besetzt. Ostdeutsche erlebten die Wiedervereinigung daher nicht als gleichberechtigtes Zusammenwachsen, sondern als Übernahme durch den Westen. Die erhofften „blühenden Landschaften“ blieben in vielen Regionen aus, stattdessen kam es zu Abwanderung, sozialer Unsicherheit und einem tiefen Misstrauen gegenüber westlichen Eliten.
5. Politische Konsequenzen: Warum die AfD profitiert
Diese historische Erfahrung hat bis heute Auswirkungen auf das politische Verhalten in Ostdeutschland. Die AfD nutzt gezielt das Gefühl der Ungerechtigkeit und der politischen Entwertung der Ostdeutschen. Ihre Rhetorik knüpft an die Erfahrungen von „Fremdbestimmung“ und „Identitätsverlust“ an, die viele Ostdeutsche nach 1990 empfanden.
- Verlust der sozialen Sicherheit: Die DDR bot eine umfassende soziale Absicherung. Nach der Wiedervereinigung erlebten viele Menschen erstmals Arbeitslosigkeit, Existenzangst und sozialen Abstieg. Die AfD präsentiert sich als Protestpartei gegen die etablierten Parteien, die in Ostdeutschland als gescheitert wahrgenommen werden.
- Elitenkritik: Die westdeutsche politische Klasse dominierte die Wiedervereinigung. Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute in den politischen Entscheidungsprozessen unterrepräsentiert. Die AfD stellt sich als Vertreter des „Ostprotests“ dar und greift das Misstrauen gegenüber den westlichen Parteien gezielt auf.
- Wirtschaftliche Ungleichheit: In vielen ostdeutschen Regionen gibt es bis heute geringere Löhne, weniger wirtschaftliche Perspektiven und eine höhere Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Die AfD spricht gezielt Menschen an, die sich von der Wiedervereinigung betrogen fühlen.
- Kulturelle Entfremdung: Der offizielle Diskurs stellt die DDR oft ausschließlich als Unrechtsstaat dar, ohne ihre sozialen Errungenschaften anzuerkennen. Viele Ostdeutsche erleben dies als Geschichtsverfälschung und wenden sich Parteien zu, die dieses Unbehagen thematisieren.
6. Fazit: Was bedeutet das für die Zukunft?
Der Erfolg der AfD in Ostdeutschland ist kein kurzfristiges Phänomen, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Fehlentwicklungen nach der Wiedervereinigung. Die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Ost und West ist nach wie vor nicht überwunden. Die AfD profitiert von diesem anhaltenden Gefühl der Benachteiligung und bietet vielen Ostdeutschen eine politische Heimat für ihren Protest.
Wenn die etablierten Parteien dem Aufstieg der AfD etwas entgegensetzen wollen, müssen sie sich ernsthaft mit den historischen Ungerechtigkeiten der Wiedervereinigung auseinandersetzen. Es reicht nicht aus, Ostdeutschland als demokratisches Problemfeld zu betrachten. Stattdessen braucht es eine ehrliche Aufarbeitung der Fehler der 1990er Jahre, eine echte wirtschaftliche Förderung strukturschwacher Regionen und eine politische Repräsentation, die den Osten nicht länger als Anhängsel des Westens behandelt.
Die Frage, warum die AfD im Osten stärker ist als im Westen, ist also nicht allein eine Frage der politischen Präferenzen, sondern eine Frage der historischen Erfahrung. Der Umgang mit dieser Erfahrung wird entscheiden, ob die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland weiter vertieft oder endlich überwunden wird.
Emilia A 1: Die Illustration für das Kapitel über die AfD und das Erbe der DDR spiegelt die komplexen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge wider, die zur heutigen politischen Landschaft beigetragen haben. Im Bild sind subtile Symbole der AfD und der DDR-Zeit integriert, um das Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu zeigen. Es werden Elemente verwendet, die die geteilte deutsche Geschichte und die Herausforderungen nach der Wiedervereinigung aufgreifen, wie z. B. angedeutete Grenzen oder Menschen, die in Diskussionen verwickelt sind.
Quellen:
Historische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen der DDR und der Wiedervereinigung
- Naimark, Norman M. (1995): The Russians in Germany: A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945–1949. Cambridge, MA: Belknap Press. Seiten 403–409. Hier wird die Demontage der Industrie und die wirtschaftliche Ausbeutung der DDR während der Besatzungszeit detailliert beschrieben.
- Major, Patrick (2010): Behind the Berlin Wall: East Germany and the Frontiers of Power. Oxford University Press. Seiten 128–134. Ein umfassender Überblick über die politischen Entscheidungen, die zum Bau der Berliner Mauer führten, und deren Auswirkungen auf die DDR.
- Schwarz, Hans-Peter (1991): Die Bundesrepublik Deutschland und die Hallstein-Doktrin: Ein Beitrag zur Außenpolitik der Adenauer-Zeit. Seiten 102–118. Detaillierte Analyse der Hallstein-Doktrin und ihrer Rolle bei der Isolation der DDR.
Der Mauerbau und die Planwirtschaft in der DDR
- Harrison, Hope M. (2019): After the Berlin Wall: Memory and the Making of the New Germany, 1989 to the Present. Cambridge University Press. Seiten 37–45. Besprechung der wirtschaftlichen und sozialen Spannungen, die durch die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte in den Westen entstanden, und die politische Entscheidung zum Mauerbau.
- Fulbrook, Mary (2009): The People’s State: East German Society from Hitler to Honecker. Yale University Press, Seiten 99–105. Diskussion über die Rolle der Planwirtschaft und der sozialen Absicherung in der DDR.
Wiedervereinigung und die 2+4-Verträge
- Stent, Angela (2000): Russia and Germany Reborn: Unification, the Soviet Collapse, and the New Europe. Princeton University Press. Seiten 140–145. Besprechung der geopolitischen Hintergründe der Wiedervereinigung und die Rolle der USA und der Sowjetunion in den 2+4-Verträgen.
- Kohl, Helmut (1997): Ich wollte Deutschlands Einheit: Der Weg zur Wiedervereinigung. Seiten 45–49. Einblicke in die Gespräche zwischen Kohl und Gorbatschow, insbesondere zu den finanziellen Absprachen, die zur Wiedervereinigung führten.
- Maier, Charles S. (1997): Dissolution: The Crisis of Communism and the End of East Germany. Princeton University Press. Seiten 214–222. Analyse der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die zur Wiedervereinigung führten, und die Rolle der westlichen Alliierten.
Folgen der Wiedervereinigung und Rolle der Treuhandanstalt
- Gensicke, Klaus (2018): Die Treuhandanstalt: Das unentdeckte Land der deutschen Einheit. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Seiten 67–73. Detaillierte Untersuchung der wirtschaftlichen Transformation der DDR und der sozialen Folgen.
- Dale, Gareth (2005): Between State Capitalism and Globalisation: The Collapse of the East German Economy. Peter Lang, Seiten 133–138. Beschreibung der wirtschaftlichen Umstrukturierung durch die Treuhand und deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland.
- Forss, R., & Der Spiegel (1995): „Ostalgie und DDR-Bewusstsein in der neuen Generation,“ Der Spiegel, Ausgabe 40, Seiten 20–25. Ergebnisse der Umfrage, die das DDR-Bewusstsein und die Zufriedenheit der Ostdeutschen kurz nach der Wiedervereinigung dokumentiert.
Politische und soziale Folgen sowie der Aufstieg der AfD
- Decker, Frank (2018): Populismus in Europa und Amerika: Die Krise der Demokratie? Springer, Seiten 52–60. Untersuchung des AfD-Erfolgs in Ostdeutschland und die Verbindung zum Erbe der DDR.
- Patton, David (2021): Out of the East: From PDS to Left Party in Unified Germany. State University of New York Press, Seiten 87–93. Die politische Entfremdung in Ostdeutschland und der historische Kontext, der zum Erfolg der AfD beiträgt.
- Arzheimer, Kai (2019): The AfD: Analysing a Populist Radical Right Party. Routledge, Seiten 45–50. Studie zur politischen und sozialen Motivation der AfD-Wähler und deren Verknüpfung mit der Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern.
Kulturelle Dominanz und Identitätsspaltung
- Hockenos, Paul (2018): Berlin Calling: A Story of Anarchy, Music, The Wall, and the Birth of the New Berlin. The New Press, Seiten 212–217. Einblicke in das kulturelle Gefälle und die Identitätsspaltung zwischen Ost- und Westdeutschland nach der Wiedervereinigung.
- Brie, Michael (2014): DDR, ein besseres Deutschland? Nostalgie und Kritik an der Wiedervereinigung. Aufsatz in der Blätter für deutsche und internationale Politik, Seiten 16–22.

c/o Dr. Peter Liffler
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