
Einleitung – Warum elterliches Verhalten der Schlüssel zur Gesundheit unserer Kinder ist
Die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, hat weitreichende Auswirkungen auf deren körperliche und psychische Gesundheit. Die frühkindliche Erziehung und die emotionale Fürsorge legen den Grundstein für Stressbewältigung, soziale Kompetenz und langfristige Resilienz. In unserer modernen Gesellschaft, die durch Zeitdruck, digitale Ablenkung und hohe Erwartungen geprägt ist, scheint der natürliche Instinkt für eine bedürfnisorientierte Erziehung oft verloren gegangen zu sein.
Jean Liedloffs Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück brachte diese Thematik bereits in den 1970er-Jahren ins öffentliche Bewusstsein. Liedloff beschrieb, wie indigene Völker eine natürliche Balance zwischen elterlicher Fürsorge und kindlicher Autonomie finden. Während ihre Beobachtungen viele westliche Eltern inspirierten, wurde jedoch auch kritisiert, dass die Übertragung dieser Prinzipien auf die moderne Gesellschaft nicht ohne Weiteres möglich sei. Dennoch bleibt ihre Kernbotschaft relevant: Kinder brauchen Nähe, Verständnis und eine Umgebung, die ihre emotionalen Bedürfnisse respektiert. Eine Missachtung dieser Grundprinzipien kann nicht nur zu emotionaler Unsicherheit, sondern auch zu gesundheitlichen Problemen führen.
Die Forschung zeigt, dass der Erziehungsstil einen direkten Einfluss auf die Stressverarbeitung und Sensitivität eines Kindes hat. Überbehütung und ständige Kontrolle können ebenso schädlich sein wie emotionale Vernachlässigung. Kinder, die früh einem konstanten Stresslevel ausgesetzt sind, entwickeln häufig eine erhöhte Sensitivität, die sich in späteren Jahren in Form von psychischen oder physischen Erkrankungen manifestieren kann. Hier setzt die Prävention an: Eltern müssen unterstützt werden, eine Umgebung zu schaffen, die das Wohlbefinden der Kinder fördert – nicht nur kurzfristig, sondern mit Blick auf deren gesamte Lebensentwicklung.
Der Hype um das Attachment Parenting (AP) – Die 7 B‘ s des William Sears
Das Konzept des Attachment Parenting (AP), entwickelt von William Sears, gewann in den letzten Jahrzehnten enorm an Popularität. Sears postulierte, dass eine enge körperliche und emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind essenziell für dessen gesunde Entwicklung sei. Zu seinen „7 B’s“ gehören unter anderem das Stillen nach Bedarf, das Tragen des Kindes in einem Tragetuch und das gemeinsame Schlafen im Familienbett. Während viele Eltern durch diese Methoden eine stärkere Bindung zu ihren Kindern aufbauen konnten, wurde AP zunehmend als rigides Erziehungskonzept wahrgenommen, das hohe Anforderungen an Mütter stellte.
Kritiker weisen darauf hin, dass AP in seiner Extremform Eltern unter immensen Druck setzt. Mütter empfinden es als Verpflichtung, ständig verfügbar zu sein, was nicht nur zu Erschöpfung und Stress führen kann, sondern auch die Selbstständigkeit der Kinder beeinträchtigen könnte. Während die Grundidee, eine sichere Bindung zu fördern, wissenschaftlich gut belegt ist, gibt es keine eindeutigen Beweise dafür, dass eine strikte Umsetzung der 7 B’s langfristig bessere Ergebnisse erzielt. Es bleibt entscheidend, eine gesunde Balance zu finden, die sowohl die Bedürfnisse der Kinder als auch die der Eltern berücksichtigt.
Die Eltern wehren sich
Immer mehr Eltern beginnen, den Druck und die einseitigen Erwartungen des Attachment Parenting zu hinterfragen. Während AP ursprünglich als Gegenbewegung zu autoritären Erziehungsstilen gedacht war, hat es sich vielerorts in ein Dogma verwandelt, das kaum Raum für individuelle Anpassungen lässt. Eltern berichten von Überforderung und einem ständigen Gefühl des Versagens, wenn sie den hohen Standards nicht gerecht werden.
Gleichzeitig gibt es auch eine Gegenbewegung, die für mehr Flexibilität in der Erziehung plädiert. Kritikerinnen wie Carolin Rosales warnen davor, dass AP zu einer Selbstoptimierungsfalle für Mütter werden kann, in der die eigenen Bedürfnisse zugunsten eines vermeintlich idealen Erziehungsstils aufgegeben werden. Dieser gesellschaftliche Wandel zeigt, dass viele Eltern beginnen, sich gegen den Perfektionismus in der Erziehung zu wehren und alternative Ansätze zu suchen, die sowohl kindgerecht als auch elterngerecht sind.
Expert*innen warnen inzwischen vor der bindungsorientierten Erziehung des AP
Psychologinnen und Erziehungsexpertinnen betonen zunehmend, dass eine übermäßige Fixierung auf Bindungserziehung langfristig problematisch sein kann. Während eine enge Eltern-Kind-Bindung wichtig ist, darf sie nicht dazu führen, dass Kinder überbehütet werden und keine Möglichkeit zur Entwicklung von Autonomie erhalten. Michael Winterhoff warnt vor einer Erziehung, die Kinder in einer künstlichen Abhängigkeit hält und ihnen die Chance nimmt, eigene Herausforderungen zu meistern.
Ein weiteres Problem ist die Überforderung der Eltern, insbesondere der Mütter. Die Erwartung, immer ansprechbar zu sein und sich selbst zurückzunehmen, führt häufig zu Stress, Erschöpfung und sogar depressiven Verstimmungen. Horst-Eberhard Richter beschrieb bereits in den 1980er-Jahren, dass Eltern in unsicheren Zeiten häufig durch übermäßige Fürsorge versuchen, Stabilität zu schaffen – was jedoch langfristig sowohl Eltern als auch Kinder belastet.
Sensible Menschen neigen bei länger anhaltender Überforderung zur Überreizung
Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang betrachtet werden muss, ist die individuelle Sensibilität der Kinder. Sensible Kinder haben eine intensivere Wahrnehmung ihrer Umwelt und reagieren stärker auf Stressfaktoren. Während Sensibilität positive Eigenschaften wie Empathie und Kreativität begünstigt, kann eine langfristige Überforderung zu einer gesteigerten Sensitivität führen, die gesundheitliche Folgen haben kann.
Die Forschung zur Sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit (SPS) zeigt, dass Kinder, die konstant einem hohen Stresslevel ausgesetzt sind – sei es durch überbehütende Eltern oder durch ein unruhiges Umfeld – mit der Zeit eine übersteigerte Empfindlichkeit entwickeln können. Dies äußert sich in einer verringerten Belastbarkeit, einem erhöhten Risiko für Angststörungen sowie psychosomatische Beschwerden wie Schlafprobleme oder chronische Schmerzen.
Die systemische Hyposensibilisierung (SHS) – Ein Ansatz zur Stressreduktion
Ein innovativer Ansatz, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist die Systemische Hyposensibilisierung (SHS). Dieses Verfahren wurde entwickelt, um Eltern und Kinder darin zu unterstützen, stressbedingte Überempfindlichkeit zu reduzieren. Die Methode basiert auf der gezielten Reduktion von Angstsymptomen durch verhaltenstherapeutische Techniken und kognitive Umstrukturierung. Besonders bei Eltern von Kindern mit atopischer Dermatitis und Neurodermitis konnte die SHS bereits vielversprechende Ergebnisse zeigen.
Durch strukturierte Sitzungen lernen Eltern, ihre eigene Sensitivität zu regulieren und dadurch eine entspanntere Atmosphäre für ihre Kinder zu schaffen. Erste klinische Verlaufsstudien deuten darauf hin, dass Kinder von Eltern, die an der SHS teilnehmen, langfristig eine geringere Anfälligkeit für Überempfindlichkeitsreaktionen entwickeln. Dies zeigt, dass nicht nur das direkte Verhalten der Eltern entscheidend ist, sondern auch deren eigene psychische Stabilität eine zentrale Rolle für die Gesundheit ihrer Kinder spielt.
Schlussfolgerung und Perspektiven
Der Wandel in der Erziehungslandschaft zeigt, dass ein ausgewogener Ansatz notwendig ist. Weder autoritäre noch überfürsorgliche Erziehungsmethoden führen langfristig zu positiven Ergebnissen. Vielmehr ist es entscheidend, dass Eltern lernen, auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen, ohne sich selbst dabei zu verlieren.
Die Zukunft der Erziehung könnte in einem flexiblen, wissenschaftlich fundierten Ansatz liegen, der die Balance zwischen Fürsorge und Autonomie fördert. Eltern müssen ermutigt werden, sich von starren Erziehungskonzepten zu lösen und stattdessen Wege zu finden, die sowohl ihren Kindern als auch ihnen selbst gerecht werden. Die Erkenntnisse aus der SHS und der Sensibilitätsforschung zeigen, dass langfristige Gesundheitsprävention in der Kindheit beginnt – und dass eine stabile, reflektierte Elternschaft der beste Schutzfaktor für die Entwicklung eines gesunden Kindes ist.
Quellen:
- Liedloff, J. Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. Verlag Y, Jahr. Seiten XX–XX.
- Hollstein, W. Was von den 68ern übrig blieb: Der Verlust einer Generation. Verlag Y, Jahr. Seiten XX–XX.
- Vero Copner Wynne-Edwards. Kapitel 3 in: Mark E. Borrello: Evolutionary Restraints. The Contentious History of Group Selection. The University of Chicago Press, Chicago und London 2010 S. 40–55.
- Meadows D.: Die Grenzen des Wachstums.Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1972
- Goldmith E.: Der Weg: Ein ökologisches Manifest. Bettendorf, München 1996, ISBN 3-88498-091-2, S. 16, 263 ff. und 412–413):
- Kafka P.: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise. Carl Hannen-Verlag München 1994, ISBN 3-446-17834-1)
- Richter H.E. Der Gotteskomplex, Ullstein-Taschenbuch-Verlag 2004
- Richter H.E .Das Ende der Egomanie. Die Krise des westlichen Bewusstseins. 2002, ISBN 3-462-03087-6 (als Taschenbuch: Knaur 77655, München 2002
- William Sears und Attachment Parenting
- Sears, W., & Sears, M. The Baby Book: Everything You Need to Know About Your Baby from Birth to Age Two.Verlag Z, Jahr. Seiten XX–XX.
- Small, M. Our Babies, Ourselves: How Biology and Culture Shape the Way We Parent. Verlag Y, Jahr. Seiten XX–XX.
- Carolin Rosales
- Rosales, C. Zitate aus dem Blog „Stadtlandmama.de“ und Interviews in der Funke Mediengruppe (z. B. Artikel von 2015–2022).
- Ockwell-Smith, S. The Gentle Parenting Book. Verlag Z, Jahr. Seiten XX–XX.
- Kohn, A. Unconditional Parenting: Moving from Rewards and Punishments to Love and Reason. Verlag X, Jahr. Seiten XX–XX.
- Rosin, H. „The Case Against Attachment Parenting.“ The Atlantic, Jahr, Seiten XX–XX.
- Orgad, S., & Gill, R. The Confidence Cult(ure). Verlag X, Jahr. Seiten XX–XX.
- Baumrind, D. „Current Patterns of Parental Authority.“ Developmental Psychology, 1971, Seiten XX–XX.
- [Interne Studien oder Berichte zu SHS bei atopischer Dermatitis und Neurodermitis]
- Primärquellen der Epoche:
- Samuel Richardson – Pamela (1740) und Clarissa (1748): Romane, die das Innenleben und die emotionalen Konflikte ihrer Figuren betonen und die Entwicklung der Empfindsamkeit in der Literatur stark prägten.
- Jean-Jacques Rousseau – Julie oder Die neue Heloise (1761): Ein Meilenstein der empfindsamen Literatur, der die Bedeutung von Natur und Gefühlen in Beziehungen hervorhebt.
- Laurence Sterne – A Sentimental Journey Through France and Italy (1768): Ein Werk, das empfindsame Betrachtungen mit einer neuen Erzählweise verbindet.
- Christian Fürchtegott Gellert – Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751): Ein Beispiel für den empfindsamen Briefstil in der deutschen Literatur.
- Johann Wolfgang von Goethe – Die Leiden des jungen Werther (1774): Eines der bekanntesten Werke, das die Epoche der Empfindsamkeit in Deutschland und ganz Europa nachhaltig beeinflusste.
- Sekundärquellen und Literatur zur Epoche:
- Wilhelm Scherer – Geschichte der deutschen Literatur (1883): Scherer bietet einen Überblick über die Bedeutung der Empfindsamkeit in der deutschen Literatur.
- Hans-Georg Kemper – Empfindsamkeit und Sturm und Drang (1985): Eine wichtige wissenschaftliche Analyse zur Verbindung und Abgrenzung dieser literarischen Strömungen.
- Erich Trunz – Empfindsamkeit und Aufklärung (1972): Eine klassische Abhandlung, die die kulturellen und philosophischen Wurzeln der Empfindsamkeit in der Aufklärung aufzeigt.
- Rüdiger SafransKI – Romantik. Eine deutsche Affäre (2007): Auch wenn es die Romantik behandelt, beleuchtet das Buch den Übergang von der Empfindsamkeit zur Romantik und deren gesellschaftliche Bedeutung.
- Philosophie und Ideengeschichte:
- David Hume – A Treatise of Human Nature (1739-1740): Grundlagen für das philosophische Verständnis von Emotionen in der Epoche.
- Adam Smith – The Theory of Moral Sentiments (1759): Untersuchung der Empathie und Moral, die den Geist der Empfindsamkeit widerspiegelt.
- Immanuel Kant – Frühere Schriften wie Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764): Eine philosophische Reflexion der Zeit über Gefühle und Moral.

c/o Dr. Peter Liffler
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